„Wer sich vom Grund abstößt,
taucht schneller wieder auf.
Wer zu schnell auftaucht,
bekommt die Taucherkrankheit.
Alles hat seinen natürlichen Rhythmus.“
Heute ist Wintersonnenwende. Es ist der kürzeste Tag des Jahres – er ist nur 7 Stunden und 39 Minuten (Hannover) lang. Darauf folgt die längste Nacht des Jahres mit 16 Stunden und 21 Minuten. Diese Tag kennzeichnet auch den Winteranfang.
Ab morgen wird der Tag wieder länger. Dies ist zunächst nur nachmittags spürbar. Denn bis Anfang Januar geht die Sonne morgens etwas später auf, nachmittags jedoch später unter. Die abgeflachte, elliptische Umlaufbahn der Erde um die Sonne ist dafür verantwortlich. Je nördlicher der Ort, desto kürzer der Tag. In München beispielsweise ist der Tag 8 Stunden und 21 Minuten lang, im Vergleich zu Hannover 42 Minuten länger. Mit dem flacheren Sonnenlauf erreicht auch weniger Licht die Erde – sie kühlt mit etwas Verzögerung ab, sodass die tiefsten Temperaturen im Januar und Februar messbar sind.
Der Winter ist eine Zeit des Rückzugs. Flora und Fauna legen eine Pause ein. Das verringerte Sonnenlicht führt beim Menschen zu einer Veränderung seines Biorhythmus. So wird z. B. eine erhöhte Menge an Melatonin, das sogenannte Schlafhormon, im Gehirn produziert, was zu Müdigkeit, vermehrten Träumen und Depression führen kann. Erkältungen und andere Erkrankungen nehmen zu. Auch sterben in den Monaten Dezember bis März die meisten älteren Menschen.
Kulturell wird die Wintersonnenwende seit Jahrtausenden gefeiert, z. B. in Stonehenge in Südengland, bei den Externsteinen im Teutoburger Wald in Norddeutschland oder mit einem Feuerlauf auf dem Takaosan, einem Tempelberg in Japan. Symbolisch ist dieser Tag dem Licht gewidmet. Die zunehmende Helligkeit wurde in der vorantiken Zeit als die Rückkehr der Sonne aus der Mutter Erde gedeutet. Daher wird die Wintersonnenwendenacht schon seit der Zeit der Kelten ca. 650 v. Chr. auch „Mutternacht“ genannt.
Die anbrechende Zeit kann auch eine Phase innerer Konflikte sein. Insbesondere die zwölf sogenannten Rauhnächte sei, dem Volksmund nach, eine Zeit der Geister, Dämonen, sprechenden Tiere und Vorhersehung. „Rauh“ bezeichnete dabei nicht die „Rauhheit“ der Nächte, sondern stammt von „rauch“, was früher auch „pelzig“ bedeutete. Damit waren die Perchten gemeint, die mit Fell behangen, furchteinflößende Masken tragend und weih räuchernd, das Böse vertrieben – gleichsam Feuer mit Feuer bekämpfen. Selbst heute noch lebt dieser Brauch in den Alpen Bayerns und Österreichs fort. Die Zeit der zwölf Rauhnächte, so heißt es auch, stünde für die kommenden zwölf Monate des neuen Jahres. Das, was sich in ihnen andeute, würde sich später erfüllen, so die die Prophezeihung.
Psychologisch gesehen ist diese Zeit gekoppelt mit den Polaritäten von Altes-Neues, Tod-Geburt, Loslassen-Festhalten, Abschied-Neubeginn u. ä. Sie geht einher mit einer höheren Vulnerabilität, Unsicherheiten, Aggressionen und Unbewältigten. Die feine Barriere zwischen Bewussten wird durchlässiger. Erinnerungen und belastendes Material kann leichter an die Oberfläche dringen und gewohnte Stabilität schwanken lassen. Ein Befassen und Anerkennen der inneren Bewegungen und Landschaften wäre ein guter Schritt im Bewältigen von Ängsten, Ärger und Traurigkeit. Die Zeit nach der Wintersonnenwende gliche dabei der sensiblen Zeit kurz nach der Geburt, in der das Sonnenjahr, besonders Schutz und Geborgenheit braucht.
Oft wird diese Zeit genutzt, um sich der Einkehr, der Kontemplation, der Meditation, dem Yoga, dem Gebet, der Familie, den Freunden oder Menschen, die Hilfe brauchen, zu widmen. Eine Diät, Fasten, Spaziergänge, Kerzen, Rituale, Tagesstruktur oder Genuss können unterstützend wirken.
Spirituell kann dies eine Chance für die eigene Entwicklung bieten. Die nicht selten übersehene Lücke zwischen den Gegensätzen des Lebens ist ein Moment der Stille: So wie es einen Augenblick des Atemhaltens zwischen Ein- und Ausatmen gibt, so existiert sie auch beim Pendeln zwischen Alt und Neu. Es kann eine befreiende Erfahrung sein.
Eine bewährte Methode, diese Zeit auszudehnen, ist die Meditation und die Kontemplation. In der Meditation wird ein Zustand des klaren Hier und Jetzt, frei von Gedanken, z. B. mit Fokus auf Körper und Atem trainiert. In der Kontemplation wird die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gedanken, ein Bild oder ein Gefühl gelenkt. Beides hat positive Wirkungen auf die körperliche und geistige Gesundheit und lässt innere Bewusstheit, Konzentration und Gelassenheit entstehen. Die Wintersonnenwende kann so auch als die Überwindung der Dunkelheit durch das Licht - die Sonne als das sich ausdehnende Bewusstsein -interpretiert werden.
Im Shanti Path aus der Brhadaranyaka Upanishad heißt es:
Asato Ma Sad Gamaya
Tamaso Ma Jyotir Gamaya
Mrityor Ma Amritam Gamaya
OM Shanti Shanti Shanti
Vom Unwirklichen zur Wirklichkeit
Von der Dunkelheit zum Licht
Vom Tod zur Unsterblichkeit
OM Frieden Frieden Frieden
Gut geeignet ist eine Meditation und Kontemplation für den Jahresrückblick. Darin kann sich Altes klären und Raum für Antworten entstehen. Dies ist günstig, um einen neuen Vorsatz für das neue Sonnen- und Kalenderjahr zu fassen.
Für alle Interessierte: Fühle dich eingeladen, heute eine Kerze anzuzünden und dir die Zeit zu nehmen, vielleicht für zehn Minuten, innezuhalten und dich mit dem kosmischen Rhythmus der Natur zu verbinden.
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Hinweis: Am 26.12.2021/10-12 Uhr Meditation für den Tagesrückblick
Siehe: https://www.eiryu.de/yoga/veranstaltungen/
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