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Yoga Nidra - Ritual des dynamischen Aufmerksamkeitsfokussierens

veröffentlicht in der Yoga-Fachzeitschrift Deutsches Yoga-Forum 2/2021 des Bundes Deutscher Yogalehrer (BDY)


"Wäre Yoga ein Schmetterling,
dann wäre Yoga Nidra der Schlaf der Raupe
vor ihrer Verwandlung"


Kurzfassung
Yoga Nidra ist eine Meditation, die auf dynamischer Achtsamkeitsfokussierung beruht. Es induziert ein Entkoppeln von äußeren Stimuli, Tiefenentspannen und Ausdehnen der Wahrnehmung. Seine Einfachheit verleiht ihm Relevanz als alltägliche Entspannungs- und Regenerationstechnik.

 

Yoga Nidra ist eine Meditation, Tiefenentspannung und ein Bewusstseinszustand. Der Ausdruck lässt sich übersetzen als "yogischer Schlaf". Die Technik wurde von Swami Satyananda Saraswati aus den Jahrtausende alten Lehren des Tantra destilliert und für die Bedürfnisse des Menschen von heute neu modelliert.

Wissenschaftliche Studien haben seine positiven Auswirkungen auf das Herz-/Kreislaufsystem, den elektrischen Hautwiderstand, die Muskelspannung, die Gehirnaktivität und das Wohlbefinden validiert. Die Technik wirkt ausgleichend und eignet sich besonders für Stressprävention. Für einige Wenige hätte sie Einschränkungen, z. B. sollte ein ausgedehntes Üben bei Depressionen, Angststörungen oder Traumata nur unter Aufsicht oder Supervision eines erfahrenen Yoga Lehrers oder Therapeuten erfolgen.

Yoga Nidra wird fälschlicherweise oft als Entspannungsübung klassifiziert. Entspannen ist jedoch nur ein Aspekt der Technik. Yoga Nidra zielt auf das dynamische Achtsamkeitsfokussieren und -ausdehnen hin. Damit verbunden ist das Steuern des eigenen Erlebens. Das Entspannen ist der Auslöser für ein umfassendes Bewusstwerden eigener Ressourcen.

 

Yoga Nidra, Trance und Meditation

Das einsetzende Entspannen ist Vorreiter eines sich ausdehnenden Wahrnehmens. Die Alltagswirklichkeit weicht einem veränderten Erleben. In der Anfangsphase ähnelt Yoga Nidra dabei der Trance oder Hypnose. Der Unterschied ist: Übende bleiben vollbewusst und können sich erlauben, Anspannungen und Inhalte auf körperlicher, mentaler und emotionaler Ebene gehen zu lassen. Ein bedeutender Unterschied ist ein Ziel von Yoga Nidra: das Erleben ungeteilten Seins. Teilnehmer*innen beschreiben dies z. B. als integrierendes Erfahren eines tiefenentspannten Körpers, „wie tot“ meinen manche, bei völliger Wachheit. Das Lösen der Identifikation vom Körper hat zahlreiche positive Auswirkungen: die vielleicht eindrucksvollste ist die signifikante Zunahme von Ruhe, innerer Harmonie und Gelassenheit.

Dieses Erleben rückt Yoga Nidra in die Nähe zu Meditation. Der Unterschied ist, dass die liegende Haltung ein nachhaltiges Entspannen ermöglicht. Die klassische meditative Sitzhaltung hat den Nachteil, dass nicht wenige Übende, diese als anstrengend empfinden und nicht über einen längeren Zeitraum ausüben können. Der Vorteil gegenüber Yoga Nidra wäre, dass das Einschlafrisiko geringer ist.

Yoga Nidra nimmt daher einen eigenständigen Platz zwischen Trance und klassischer Meditation ein. Er kann auch als wichtiger Vermittler zwischen beiden gesehen werden. Er kann dabei helfen, einen einfachen Zugang zu den unerschlossenen Ressourcen einer sich vertiefenden Bewusstheit zu bahnen.

 

Achtsamkeit & Aufmerksamkeitsfokussierung

Drei Aspekte prägen Yoga Nidra: Wachheit, Achtsamkeitsfokussieren und Entspannen. Die Wachheit ist die Basis für ein dynamisches Achtsamkeitsfokussieren. Daher ist es sinnvoll, Yoga Nidra zu üben, wenn noch genügend Energie vorhanden ist, um wach zu bleiben. Das kontinuierliche systematische Lenken der Wahrnehmung durch Körperteile, Atem, Gedanken und Emotionen induziert ein absichtsloses Entspannen auf unterschiedlichen Ebenen. Dabei wird von der äußeren Ebene schrittweise auf die innere Ebene geführt und so ein umfassendes Entspannen ausgelöst. Dieses dynamische Fokussieren steuert die neuartige Qualität des entspannten Erlebens.

Das Herzstück von Yoga Nidra ist die tantrische Technik Nyasa, was so viel bedeutet wie "auflegen". Ursprünglich war damit gemeint, ein Körperteil wahrzunehmen und ein aufwändiges Sanskrit Mantra dazu zu chanten, das Mantra sozusagen „aufzulegen“. Dieses klassische Ritual konnte mehrere Stunden dauern. Im modernen Yoga Nidra wird auf dieses aufwändige Mantra Ritual verzichtet. Stattdessen wird die Achtsamkeit durch das Lenken und Visualisieren auf ein Körperteil fokussiert sowie durch gedankliches Benennen des Körperteils vertieft. Dadurch ähnelt sie einer mentalen Akupunktur – Übende beschreiben in dieser Phase oft ein Erleben von Wärme und fließender Energie im Körper.

 

Pratyahara – achtsame Entkopplung

Nyasa ebnet Pratyahara den Weg. Pratyahara ist das Zurückziehen der Wahrnehmung von den äußeren Sinneseindrücken. Äußere Stimuli erreichen nicht mehr das Gehirn.

Durch das detaillierte Achtsamkeitsfokussieren auf einzelne Körperteile entsteht eine Rückkopplungsschleife von Stimulieren und Dämpfen, die zu einer Reizreduktion führt. Sinneseindrücke sowie mental-/emotionale Stimuli werden von der Wahrnehmung entkoppelt. Die Gleichförmigkeit des Übens versetzt das Gehirn in einen Zustand homogenen Erlebens. Ein Zustand des Gewöhnens und der Sicherheit wird vertieft. Die Aktivität des Stammhirns, in dem der Kampf-Flucht Reflex gesteuert wird, kann gedrosselt werden.

In der modernen Forschung ist die positive Wirkung von Reizentzug auf die Gesundheit seit den Sechzigern vielfältig untersucht worden. Beispielsweise können mittels Floating Tanks „Schwebetanks“ Menschen in sensorischer Abgeschiedenheit einen Schwebezustand erleben, der dem von Yoga Nidra ähnelt. Der Übende liegt dabei auf einer warmen Salzwasseroberfläche in einem Raum, in den kein Licht oder Schall dringt. Dies wird aktuell als Chance für Stressmanagement, Burn-Out Syndrom, Suchtentwöhnung, Schmerzmedizin, Orthopädie, Dermatologie und Sportmedizin erforscht.

Dieses Schweben oder ‚Floaten‘ ist ein Indiz für Pratyahara, dem Rückzug der Wahrnehmung von den Sinnesreizen. Es ähnelt einem Schließen der Tore zu Außenwelt. Äußere Störungen werden von der Wahrnehmung entkoppelt. Die Informationen über die Sinnesorgane wie Riechen, Schmecken, Sehen, Fühlen und Hören verringern und lösen ihren Kontakt mit der Bewusstheit. Das zieht häufig ein tieferes Verstehen der subjektiven Erlebensfähigkeit jenseits von Polarität und Differenzierung nach sich.

 

Samskaras – Einprägungen gehen lassen

Im Zustand von Pratyahara kann sich die Bewusstheit weiter entspannen. Anspannungen wirken ähnlich wie ein Filter zwischen bewusstem und unbewusstem Erleben. Sie agieren als Regulatoren für unangenehme Erfahrungen, z. B. Ängste, unterdrückten Zorn, belastendes biografisches Material oder Traumata. Diese Erfahrungen heißen im Yoga Samskaras, den Einprägungen. Nicht selten steigen sie als Bilder, filmartige Sequenzen oder vergessene Erinnerungen auf, die ein Indiz dafür sein können, dass das Bewusstsein in Berührung mit seinen tieferen Schichten gekommen ist. Je tiefer sie sich entspannen, desto mehr können Übende sich diesen Inhalten stellen – wenn sie möchten. Eine kognitive Auseinandersetzung mit aufsteigenden Themen ist nicht entscheidend. Das Unbewusste kann seine unangenehmen Erfahrungen aus sich selbst heraus transformieren, so dass sie ihre begrenzende Kraft verlieren.

Um dieser Erfahrung den Weg zu bahnen, ist die Allparteilichkeit gegenüber allem, was im Geist geschieht, hilfreich. Es ist die Erlaubnis, alles erleben zu dürfen auf dem fruchtbaren Boden einer bedingungslos akzeptierenden Grundhaltung. Es kommt zu einem Dissoziieren von Beobachtetem und Beobachter*in. Dieses Abstandnehmen bei gleichzeitiger Erlebnisqualität ist der Schlüssel zur Nachhaltigkeit von Yoga Nidra. Es ähnelt einem spannenden Kinofilm: der ‚sichere Abstand‘ schafft den Rahmen für ein mentales und emotionales Erleben. Am Ende hat das Bewusstsein einen selbstgesteuerten ‚Reset‘ ausgeführt. Diese Bewusstheitskompetenz zu entwickeln, das ist das yogische Training.

 

Erleben des sich bewusstwerdenden Bewusstseins

Auf einer tiefen Ebene von Yoga Nidra können Gedanken, Emotionen und Bilder zur Ruhe kommen. Kaum wahrnehmbare sensorische und mentale Reste treiben eventuell noch im Bewusstseinsmeer. Energie, die im Wachzustand gewöhnlich für die Bewältigung körperlicher und geistiger Aufgaben gebunden ist, verwandelt sich in eine allmähliche Implosion von Selbst-Bewusstheit. Das individuelle sich selbst wahrnehmende Bewusstsein, auch Jivatama genannt, erlebt eine neue Dimension und wird sich seiner zunehmenden Quantität bewusst – ein Quantensprung im Selbstwahrnehmen. Ein Zustand von Klarheit und Wachsein manifestiert sich im Bewusstsein. Erlebnisse von Zeit- und Grenzenlosigkeit, Licht, sowie absichtsloser Gegenwärtigkeit können dies begleiten.

 

Zusammenfassung

Im Bihar Yoga System gilt Yoga Nidra als Voraussetzung für Dhyana, Meditation. Seine Einfachheit macht sie für viele Menschen annehmbar. Mit Yoga Nidra können Entspannen und positives Erleben nachhaltig trainiert werden. Auf systematische Weise können physische und psychische Ebenen in ihrer Tiefe erfasst werden.

Das konsequente Entkoppeln der Reizwahrnehmung ist das Kennzeichen von Yoga Nidra. Dies bahnt dem Tiefenentspannen und Öffnen der Tore zu gewöhnlich verborgenen Erlebnisqualitäten den Weg. Im sich vertiefenden Pratyahara Zustand können unbewusste Blockaden mit ihren Wurzeln gelöst werden.

Das identifizierte Bewusstsein wird eingeladen, einschränkende Muster und Gewohnheiten gehen zu lassen. Dies ist der Schlüssel, um das eigene Erleben auszudehnen und zu gestalten. Stabilisiert sich diese Phase kann sich ein Quantensprung manifestieren: das Erfahren des homogenen Bewusstseins.

Das Ergebnis eines regelmäßigen Übens von Yoga Nidra ist das Weiten innerer Ressourcen: eine kompetentere Steuerung des Wohlbefindens sowie ein Gedeihen von Tatkraft und Lebensfreude. Die innere Natur des Menschen in Balance zu bringen, zu erschließen und nutzbar zu machen für ein gesundes und förderliches Leben – das ist der Sinn von Yoga Nidra.

 

Literatur & Link:
Yoga Nidra von Swami Satyananda Saraswati, Yoga Publications Trust, Munger, Bihar, India, ISBN 3-928831-25-9
https://floating-verband.de/sammlung-forschungsdaten/

 

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